DIE BRENNENDEN STEPPEN
Eragon
hustete, als Saphira die Rauchschwaden durchbrach und auf den
Jiet-Strom zuhielt, der sich hinter dem Dunstschleier verbarg. Er
blinzelte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Die Dämpfe
brannten ihm in den Augen.
Näher am Boden klarte die Luft wieder auf,
sodass Eragon freie Sicht auf die Umgebung hatte. Der wogende
Schleier aus schwarzem und rotem Rauch filterte die Sonnenstrahlen,
sodass am Boden alles in einen orange leuchtenden Schimmer getaucht
war. Durch vereinzelte Risse in der Rauchdecke fielen hier und da
Lichtstrahlen zur Erde und schwebten wie gläserne Säulen über dem
Boden, bis Verschiebungen in der Wolkenwand sie wieder
zerschnitten.
Der Jiet-Strom lag dick und aufgedunsen vor
ihnen wie eine voll gefressene Schlange, und im aufgewühlten Wasser
spiegelte sich derselbe gespenstische Lichtschein, der über den
brennenden Steppen lag. Wenn hingegen ein ungetrübter Sonnenstrahl
auf den Fluss fiel, schimmerte das Wasser kreideweiß wie farbloser,
flüssiger Opal und schien ein unheimliches Glühen zu
verströmen.
An den Ostufern der schillernden
Wasserstraße standen zwei Armeen: im Süden die Varden und die
Männer aus Surda, verschanzt hinter mehreren Verteidigungslinien,
wo sie eine beeindruckende Front bunter Standarten, etliche Reihen
stolzer Zelte und König Orrins Kavallerie aufgestellt hatten. So
stark sie auch waren, verblasste ihre Zahl jedoch im Vergleich zur
Größe der im Norden stehenden Streitmacht. Galbatorix’ Armee war so
gewaltig, dass sich die erste Reihe über eine Breite von drei
Meilen erstreckte, und wie weit sich das Heer erstreckte, war nicht
auszumachen, denn die Soldaten verschmolzen in der Ferne zu einer
einzigen schattenhaften Masse.
Zwischen den beiden Heeren lag ein offenes,
etwa zwei Meilen breites Gelände. Wie das Land, auf dem die
Soldaten standen, war es von Erdlöchern zerklüftet, in denen
grünliche Flammenzungen tanzten. Aus der Tiefe stiegen Rauchwolken
auf und verdunkelten die Sonne. Jeder Grashalm, jeder Strauch war
versengt, was dem Ganzen zusammen mit den schwarzen, orangefarbenen
und braunen Flechten aus der Luft betrachtet ein schorfiges,
krankes Aussehen verlieh.
Es war der erschreckendste Anblick, den
Eragon je erlebt hatte.
Saphira kam über dem Niemandsland zum
Vorschein, das die beiden Armeen voneinander trennte, und flog in
einer Linkskurve, so schnell sie konnte, auf die Varden zu, denn
solange der Feind freie Sicht auf sie hatte, waren sie durch
Angriffe seiner Magier verwundbar. Eragon ließ sein Bewusstsein in
allen Himmelsrichtungen nach einem gegnerischen Geist spüren - dem
eines Magiers oder einer Person, die sich darauf verstand, Magie
abzuwehren.
Doch er nahm lediglich die Panik wahr, die
die Wachen der Varden mit einem Mal überkam. Ihm fiel ein, dass
viele der Männer Saphira noch nie gesehen hatten. Nun verloren sie
vor Angst den Kopf und zielten mit Pfeilen auf sie.
Eragon hob die rechte Hand und rief:
»Letta orya Thorna!« Die Pfeile
erstarrten in der Luft. Mit einer schnellen Handbewegung leitete er
ihre Flugbahn um und schickte sie ins Niemandsland, wo sie sich in
den glimmenden Boden bohrten, ohne Schaden anzurichten. Ein
Nachzügler, der etwas später abgeschossen worden war, entging ihm
allerdings. Er beugte sich, so weit es ging, zur rechten Seite
hinüber und pflückte das Geschoss blitzschnell aus der Luft, bevor
es Saphira treffen konnte.
Kaum dreißig Meter über dem Boden stellte
Saphira die Flügel auf, um den steilen Sinkflug abzubremsen, bevor
sie erst mit den Hinter- und dann mit den Vorderbeinen aufsetzte
und mitten zwischen den Zelten der Varden zum Stehen kam.
»Werg«, grummelte Orik und öffnete die
Lederschnallen, die seine kurzen Beine festhielten. »Ich würde
lieber gegen ein Dutzend Kull kämpfen, als noch einmal so einen
höllischen Sturzflug mitzumachen!« Er rutschte seitlich aus dem
Sattel, sprang auf Saphiras Vorderbein und von dort hinunter auf
den Boden.
Während Eragon noch abstieg, scharten sich
dutzende Krieger mit ehrfürchtigem Blick um Saphira. Er erkannte
einen der Männer, der die anderen um Haupteslänge überragte: Es war
Fredric, der Waffenmeister aus Farthen Dûr, der wieder in seinem
haarigen Ochsenlederumhang steckte. »Was glotzt ihr so, ihr
Tölpel!«, brüllte Fredric. »Steht hier nicht dumm rum! Zurück auf
eure Posten, sonst brumme ich euch ein paar Sonderschichten auf!«
Die Männer zerstreuten sich wieder; etliche grummelten verdrossen
und drehten sich immer wieder nach Saphira um. Dann kam Fredric
näher, und Eragon merkte, wie der Mann bei seinem Anblick erschrak.
Er versuchte, seine Verlegenheit zu überspielen, indem er forsch
salutierte und sagte: »Willkommen, Schattentöter. Ihr kommt gerade
rechtzeitig... Ich kann Euch gar nicht sagen, wie sehr es mich
beschämt, dass man Euch beschossen hat. Dieser Irrtum ist durch
nichts zu entschuldigen. Ist jemand verletzt worden?«
»Nein.«
Erleichterung breitete sich auf Fredrics
Gesicht aus. »Welch ein Glück! Ich habe die verantwortlichen Männer
umgehend suspendiert. Sie werden ausgepeitscht und ihres Ranges
enthoben... Genügt Euch diese Strafe, Schattentöter?«
»Ich möchte sie sehen«, sagte Eragon.
Plötzlich wirkte Fredric besorgt. Offenbar
fürchtete er, Eragon könnte auf grausame, übernatürliche Weise
Vergeltung an den Schützen üben. Er sprach seine Sorge jedoch nicht
aus, sondern sagte lediglich: »Wenn Ihr mir bitte folgen würdet,
Herr.«
Dann führte er sie durch das Lager zu einem
gestreiften Zelt, in dem sich etwa zwanzig missmutig dreinblickende
Soldaten unter den scharfen Blicken von einem Dutzend Bewachern
ihrer Waffen und Rüstungen entledigten. Als die Gefangenen Eragon
und Saphira erblickten, fielen sie auf die Knie, senkten die Köpfe
und riefen wie aus einem Mund: »Seid gegrüßt, Schattentöter!«
Eragon schritt wortlos die Reihe der Männer
ab und studierte ihren Geist. Seine Stiefel sanken unter lautem
Knirschen in die siedende Erdkruste ein. Schließlich sprach er:
»Ihr könnt stolz darauf sein, dass ihr so schnell auf unser
Erscheinen reagiert habt. Falls Galbatorix angreift, solltet ihr
genau das Gleiche tun, auch wenn ich bezweifle, dass eure Pfeile
gegen ihn mehr ausrichten werden als gegen Saphira und mich.« Die
Soldaten schauten ungläubig zu ihm auf. In dem vielfarbigen
Lichtschein hatten ihre Gesichter die Farbe von stumpfem Messing.
»Ich möchte nur darum bitten, dass ihr euch künftig einen Moment
Zeit nehmt, um euer Ziel zu identifizieren, bevor ihr schießt.
Nächstes Mal bin ich vielleicht zu beschäftigt, um eure Pfeile
aufzuhalten. Habt ihr mich verstanden?«
»Ja, Schattentöter!«, riefen sie.
Vor dem vorletzten Mann in der Reihe blieb
Eragon stehen und reichte ihm den Pfeil, den er aus der Luft
gepflückt hatte. »Ich glaube, der gehört dir, Harwin.«
Verwundert nahm der Soldat den Pfeil
entgegen. »Stimmt! Hier ist der weiße Strich, mit dem ich die
Schäfte meiner Pfeile kennzeichne, damit ich sie später wieder
finden kann. Vielen Dank, Schattentöter.«
Eragon nickte und sagte dann für alle
vernehmlich zu Fredric: »Das sind gute, ehrliche Männer. Ich möchte
nicht, dass man sie wegen des Vorfalls bestraft.«
»Wie Ihr wünscht, Argetlam«, sagte Fredric
lächelnd.
»Kannst du uns nun zu Nasuada führen?«
»Ja, Herr.«
Als er die Soldaten verließ, wusste Eragon,
dass er mit seiner Großzügigkeit ihre bedingungslose Loyalität
gewonnen hatte und dass sich seine edelmütige Reaktion bei den
Varden herumsprechen würde.
Während Fredric ihn zwischen den Zelten
entlangführte, spürte Eragon stärker als je zuvor die Gedanken der
Menschen um ihn herum. Hunderte von Bildern, Gefühlen und
Sinneseindrücken drängten in sein Bewusstsein. Trotz seines
Bemühens, sie von sich fern zu halten, sah er unfreiwillig zahllose
Einzelheiten aus dem Leben dieser Leute. Einige Offenbarungen
bedeuteten ihm nichts, andere entsetzten ihn und stießen ihn ab und
etliche fand er einfach beschämend. Einige der Menschen nahmen die
Welt so unterschiedlich wahr, dass ihr Geist allein wegen dieser
Unterschiede aus der Menge hervorstach.
Wie leicht es ist, all
diese Menschen als bloße Objekte zu betrachten, die ich und einige
andere nach Herzenslust manipulieren können. Und doch ist jeder von
ihnen eine eigenständige Person mit Hoffnungen und Träumen, mit
Wünschen und Gefühlen und Erinnerungen.
Einige der Personen, deren Geist er
berührte, bemerkten den Kontakt und wichen davor zurück oder
verbargen ihr Innenleben hinter unterschiedlich starken
Schutzwällen. Das beunruhigte Eragon zunächst - er glaubte, eine
Gruppe von Feinden entdeckt zu haben, die die Varden infiltriert
hatten -, aber dann wurde ihm rasch klar, dass es sich bei diesen
Personen um die einzelnen Mitglieder der Du Vrangr Gata
handelte.
Sie müssen eine
Heidenangst haben und annehmen, jeden Moment von einem mächtigen
Magier angegriffen zu werden, sagte Saphira.
Ich kann sie nicht vom
Gegenteil überzeugen, solange sie sich mir verschließen.
Du solltest sie
möglichst bald aufsuchen, bevor sie uns mit vereinten Kräften
angreifen.
In Ordnung - obwohl ich
nicht glaube, dass sie eine Gefahr für uns darstellen... Du Vrangr
Gata - allein ihr Name kündet schon von ihrer Ignoranz. In der
alten Sprache müsste es nämlich genau andersherum heißen: Du Gata
Vrangr.
Ihr Marsch endete vor einem großen roten
Pavillon, über dem eine Fahne flatterte, in die ein schwarzer
Schild und darunter zwei gekreuzte Schwerter eingestickt waren.
Fredric zog die Plane zurück, und Eragon und Orik traten hinein.
Hinter ihnen schob Saphira den Kopf durch die Öffnung und schaute
ihnen über die Schultern.
Ein breiter Tisch stand in der Mitte des
möblierten Zeltes. Am einen Ende stand Nasuada und studierte eine
Vielzahl Landkarten und Schriftrollen. Eragons Magen zog sich
zusammen, als er ihr gegenüber Arya erblickte. Beide Frauen trugen
Schlachtrüstungen.
Nasuada wandte ihm ihr mandelförmiges
Gesicht zu. »Eragon?«, flüsterte sie ungläubig.
Er hatte nicht erwartet, dass er sich so
freuen würde, sie wiederzusehen. Mit einem breiten Grinsen führte
er im traditionellen Elfengruß die Fingerspitzen an die Lippen und
verneigte sich. »Euch zu Diensten.«
»Eragon!« Diesmal klang Nasuada
überglücklich und erleichtert. Auch Arya schien sich zu freuen.
»Wie hast du unsere Botschaft so schnell bekommen?«
»Habe ich gar nicht. Ich habe mit der
Traumsicht von Galbatorix’ Aufmarsch erfahren und Ellesméra noch am
selben Tag verlassen.« Er lächelte sie erneut an. »Es ist schön,
wieder bei den Varden zu sein.«
Während er sprach, betrachtete Nasuada ihn
verwundert. »Was ist mit dir passiert, Eragon?«
Anscheinend hat ihr
Arya nichts gesagt, bemerkte Saphira.
Und so schilderte Eragon ihr in allen
Einzelheiten, was ihm und Saphira seit ihrer Abreise aus Farthen
Dûr widerfahren war. Vieles, was er berichtete, schien sie bereits
gehört zu haben, entweder von den Zwergen oder von Arya, doch sie
ließ ihn ohne Unterbrechung erzählen. Über seine Ausbildung durfte
Eragon nicht allzu viel verraten. Er hatte sein Wort gegeben,
Oromis’ Existenz zu verschweigen, und die meisten Inhalte seines
Unterrichts durfte er mit niemandem teilen, doch er tat sein
Bestes, um Nasuada eine gute Vorstellung von seinen Fähigkeiten und
den damit einhergehenden Gefahren zu vermitteln. Über
den Agaetí Blödhren sagte er
nur: »... und bei der Abschlusszeremonie haben die Drachen die
Verwandlung über mich gebracht, die du nun siehst, mir die
körperlichen Fähigkeiten der Elfen verliehen und meinen Rücken
geheilt.«
»Dann ist die Narbe also verschwunden?«,
fragte Nasuada. Er nickte. Dann fasste er mit wenigen Sätzen noch
einmal zusammen, warum sie Du Weldenvarden verlassen hatten und was
sich seither ereignet hatte. Sie schüttelte den Kopf. »Was für eine
Geschichte! Du und Saphira, ihr habt viel erlebt seit eurer Abreise
aus Farthen Dûr.«
»Du auch.« Er deutete auf das Zelt. »Es ist
erstaunlich, was du alles erreicht hast. Es muss eine gewaltige
Anstrengung gewesen sein, die Varden nach Surda zu führen... Hat
der Ältestenrat dir viele Probleme bereitet?«
»Ein paar, aber nichts Unerwartetes. Sie
scheinen sich mit meiner Führerschaft abgefunden zu haben.« Ihr
Kettenhemd klirrte, als Nasuada sich auf einen großen, hochlehnigen
Stuhl setzte und sich an Orik wandte, der bislang noch kein Wort
gesagt hatte. Sie begrüßte ihn und fragte, ob er Eragons Geschichte
noch etwas hinzufügen wolle. Orik zuckte mit den Schultern und
steuerte einige Anekdoten von ihrem Aufenthalt in Ellesméra bei,
doch Eragon vermutete, dass der Zwerg sich die wirklich spannenden
Beobachtungen für seinen König aufsparte.
Als er fertig war, sagte Nasuada: »Es freut
mich zu hören, dass die Elfen uns zur Seite stehen werden, falls
wir dem ersten Ansturm standhalten können. Habt ihr unterwegs
Hrothgars Krieger gesehen? Wir brauchen sie unbedingt, wenn wir
diese Schlacht gewinnen wollen.«
Nein, sagte
Saphira durch Eragon. Aber es war dunkel,
und ich bin oft über den Wolken geflogen, deshalb habe ich ihr
Lager vielleicht nicht bemerkt. Aber ich glaube, unsere Wege hätten
sich ohnehin nicht gekreuzt, denn ich bin von Aberon direkt hierher
geflogen und die Zwerge haben vermutlich eine andere Route gewählt.
Wahrscheinlich haben sie die Straßen genommen, um nicht mitten
durch die Wildnis marschieren zu müssen.
»Wie ist hier die Lage?«, fragte
Eragon.
Nasuada seufzte und berichtete, wie sie und
Orrin von Galbatorix’ Angriffsplänen erfahren und welche
verzweifelten Maßnahmen sie ergriffen hatten, um die brennenden
Steppen vor der Ankunft der feindlichen Armee zu erreichen. »Das
Imperium traf vor drei Tagen hier ein. Wir haben zwei Botschaften
ausgetauscht. Zuerst forderten sie uns auf zu kapitulieren, was wir
natürlich abgelehnt haben. Seitdem warten wir auf ihre
Antwort.«
»Wie groß ist Galbatorix’ Streitmacht?«,
fragte Orik. »Aus der Luft sah sie gewaltig aus.«
»Das ist sie auch. Wir schätzen, dass es gut
und gerne hunderttausend Soldaten sind.«
Eragon konnte es kaum glauben.
»Hunderttausend! Wie konnte er so viele rekrutieren? Es kann doch
höchstens ein paar hundert Männer geben, die Galbatorix freiwillig
dienen!«
»Sie hatten keine Wahl: Sie wurden
gezwungen. Wir können nur hoffen, dass die Männer, die aus ihren
Familien gerissen wurden, nicht auf eine Schlacht erpicht sind.
Falls es uns gelingt, ihnen richtig Angst einzujagen, werden sie
vielleicht ihre Stellungen verlassen und fliehen. Wir sind jetzt
zwar viel mehr als damals in Farthen Dûr, weil inzwischen auch
König Orrins Streitmacht an unserer Seite steht und sich ständig
neue Freiwillige melden, seit wir die Kunde über dich, Eragon,
verbreitet haben. Aber wir sind trotzdem deutlich schwächer als das
Imperium.«
Dann wollte Saphira etwas wissen und Eragon
musste die furchtbare Frage wiederholen: Wie stehen deiner Meinung nach unsere Chancen auf einen
Sieg?
»Das«, sagte Nasuada und wählte ihre Worte
mit Bedacht, »hängt zum Großteil von dir und Eragon und der Anzahl
von Magiern in den feindlichen Reihen ab. Wenn ihr sie finden und
unschädlich machen könnt, ist der Feind ungeschützt, und ihr könnt
ihn bedenkenlos angreifen. Ein schneller Sieg ist zum jetzigen
Zeitpunkt allerdings unwahrscheinlich, aber vielleicht können wir
den Truppen des Imperiums so lange standhalten, bis ihnen die
Vorräte ausgehen oder bis die Elfen uns zu Hilfe kommen. Das
heißt... falls Galbatorix nicht persönlich in die Schlacht
eingreift. In diesem Fall müssten wir uns wohl zurückziehen.«
In dem Moment nahm Eragon einen sonderbaren
Geist wahr, jemanden, der wusste, dass er ihn beobachtete, und doch
vor dem Kontakt nicht zurückschreckte - jemanden, dessen Geist sich
kalt, hart und berechnend anfühlte. Alarmiert schaute Eragon in den
hinteren Bereich des Pavillons, wo er dasselbe schwarzhaarige
Mädchen erblickte, das ihm schon im Rasierspiegel erschienen war,
als er Nasuada mit der Traumsicht beobachtet hatte. Die Kleine
starrte aus purpurnen Augen zu ihm herüber und sagte: »Willkommen,
Schattentöter. Willkommen, Saphira.«
Eragon schauderte, als er ihre Stimme
vernahm - die Stimme einer Erwachsenen. Er leckte sich über die
trockenen Lippen und fragte: »Wer bist du?«
Ohne zu antworten, strich sich das Mädchen
die fransigen Haarsträhnen aus dem Gesicht und enthüllte das
Drachenmal auf seiner Stirn, das genauso aussah wie
Eragons Gedwëy Ignasia. Da wusste
er, wem er gegenüberstand.
Keiner rührte sich, als Eragon zu dem
Mädchen ging. Nur Saphira schob den Kopf tiefer ins Zelt hinein.
Eragon sank auf ein Knie und nahm die rechte Hand der Kleinen in
seine. Ihre Haut war heiß, als hätte sie Fieber. Sie widersetzte
sich nicht, ließ aber die Hand nur schlaff in seiner liegen. In der
alten Sprache und zugleich im Geiste, damit sie es verstand, sagte
Eragon: »Es tut mir so Leid! Kannst du mir verzeihen, was ich dir
angetan habe?«
Der Blick des Mädchens wurde weicher und sie
beugte sich vor und hauchte Eragon einen Kuss auf die Stirn. »Ich
verzeihe dir«, flüsterte sie und klang zum ersten Mal wie ein Kind
ihres Alters. »Ich kann gar nicht anders! Du und Saphira habt mich
zu der gemacht, die ich heute bin, und ich weiß, dass ihr nichts
Böses beabsichtigt habt. Ich verzeihe dir, aber folgendes Wissen
soll dir auf der Seele lasten: Du hast mich dazu verurteilt, all
das Leid wahrzunehmen, das mich umgibt. Selbst jetzt, in diesem
Augenblick, treibt mich dein... Segen dazu, einem Mann zu Hilfe zu eilen, der
sich keine drei Zelte entfernt in die Hand geschnitten hat, weil er
einem jungen Fahnenträger helfen wollte, der sich in den
Radspeichen eines Streitwagens den Zeigefinger gebrochen hat. Und
ich spüre zahllose andere Menschen, die sich gerade verletzt haben
oder sich gleich verletzen werden, und möchte am liebsten allen
helfen. Es kostet mich immense Kraft, diesem Drang zu widerstehen,
besonders wenn ich, wie in diesem Fall, den Mann ganz deutlich vor
mir sehe… Ich kann nachts nicht schlafen, so stark ist der innere
Zwang. Das ist dein Vermächtnis
an mich, Drachenreiter.« Ihre Stimme hatte wieder den bitteren,
spöttischen Tonfall angenommen.
Saphira schob den Kopf zwischen die beiden
und berührte mit der Schnauze das Drachenmal auf der Stirn der
Kleinen. Friede, Wechselbalg! Du trägst
viel Wut im Herzen.
»Du musst nicht für immer so leben«, sagte
Eragon. »Die Elfen haben mir beigebracht, wie man einen Zauber
zurücknimmt, und ich glaube, ich kann dich von diesem Fluch
befreien. Es ist sehr kräftezehrend, aber man kann es
schaffen.«
Einen Moment lang schien das Mädchen seine
bemerkenswerte Selbstbeherrschung zu verlieren. Ein kleines Seufzen
entfleuchte ihren Lippen, ihre Hand, die Eragon noch immer hielt,
zitterte, und in ihren Augen schimmerten Tränen. Dann verbarg sie
ihre wahren Gefühle schnell wieder hinter einer Maske aufgesetzter
Unbekümmertheit. »Nun, wir werden sehen. Wenn überhaupt, dann
solltest du es erst nach der bevorstehenden Schlacht
versuchen.«
»Ich könnte dir viel Schmerz
ersparen.«
»Es wäre aber nicht gut, wenn du dich
überanstrengst, wo doch unser Überleben von deinem Einsatz abhängt.
Ich leide nicht unter Größenwahn: Du bist wichtiger als ich.« Ein
listiges Lächeln überflog ihr Gesicht. »Wenn du den Zauber jetzt
zurücknimmst, kann ich außerdem keinem der Varden mehr helfen, wenn
er in eine gefährliche Situation gerät. Du möchtest doch nicht,
dass Nasuada deshalb stirbt, oder?«
»Nein«, bekannte Eragon. Er schwieg eine
Weile und dachte nach, dann sagte er: »Na gut, ich warte. Aber ich
schwöre dir: Falls wir diese Schlacht gewinnen, werde ich meinen
Fehler wieder gutmachen.«
Das Mädchen neigte den Kopf zur Seite. »Ich
nehme dich beim Wort, Drachenreiter.«
Nasuada erhob sich aus ihrem Stuhl und
sagte: »Elva hat mich in Aberon vor einem gedungenen Mörder
gerettet.«
»Tatsächlich? Dann stehe ich in deiner
Schuld... Elva... denn du hast meine Lehnsherrin geschützt.«
»Kommt jetzt«, sagte Nasuada. »Ich muss euch
dreien Orrin und seinen Adeligen vorstellen. Bist du dem König
schon einmal begegnet, Orik?«
Der Zwerg schüttelte den Kopf. »Ich war noch
nie so weit im Westen.«
Als sie das Zelt verließen - Nasuada mit
Elva an ihrer Seite vorneweg -, versuchte Eragon, in Aryas Nähe zu
gelangen, um mit ihr zu reden, doch als er auf sie zuging,
beschleunigte sie ihre Schritte und schloss zu Nasuada auf.
Unterwegs sah Arya ihn kein einziges Mal an, und das verletzte
Eragon mehr als jede körperliche Wunde, die er sich irgendwann
einmal zugezogen hatte. Elva schaute zu ihm zurück, und er wusste,
dass sie wahrnahm, wie er sich fühlte.
Wenig später erreichten sie ein weiteres
großes Zelt. In dem orangefarbenen Licht, das über allem lag, war
es schwierig, seinen Farbton genau zu bestimmen. Als man ihnen
Einlass gewährte, sah Eragon erstaunt, dass der Innenraum mit einer
skurrilen Sammlung von Messbechern, Destillierkolben,
Reagenzgläsern und anderen naturwissenschaftlichen Instrumenten
angefüllt war. Wieso schleppt jemand all
dieses Zeug auf ein Schlachtfeld?, fragte er sich
verwundert.
»Eragon«, sagte Nasuada, »ich möchte dir
Orrin vorstellen, den Sohn von Larkin und König von Surda.«
Aus den Tiefen des gläsernen Durcheinanders
tauchte ein großer, gut aussehender Mann mit schulterlangem Haar
auf, das von einer kleinen Goldkrone gebändigt wurde. Sein Geist
war, ebenso wie der von Nasuada, von eisernen Mauern umgeben. Es
war offensichtlich, dass man ihn in dieser Fertigkeit intensiv
unterwiesen hatte. Während ihrer Unterhaltung stellte Eragon fest,
dass Orrin ein freundlicher Mensch war, wenn auch ein wenig grün
hinter den Ohren, was den Umgang mit Truppen in einer Schlacht
betraf, und auch ansonsten ein paar sonderbare Eigenarten besaß.
Alles in allem setzte Eragon mehr Vertrauen in Nasuadas Führung als
in die des schrulligen Monarchen.
Nachdem er dutzenden von Orrins Fragen nach
seinem Aufenthalt bei den Elfen ausgewichen war, musste Eragon
einen Aufmarsch von Grafen über sich ergehen lassen und jedem
höflich zunicken, Hände schütteln und sich anhören, was für eine
Ehre es für sie sei, einen Drachenreiter kennen zu lernen.
Natürlich luden sie ihn auch auf ihre Anwesen ein. Pflichtbewusst
prägte Eragon sich all ihre Namen und Titel ein - er wusste, dass
Oromis dies von ihm erwarten würde - und gab sich Mühe, trotz
seiner wachsenden Ungeduld Haltung zu wahren.
Wir stehen kurz davor,
gegen eine der größten Armeen aller Zeiten in die Schlacht zu
ziehen, und stehen hier herum und faseln dummes Zeug!
Hab
Geduld, sagte Saphira. So viele
sind es ja nicht mehr… Außerdem - sieh es mal so: Wenn wir
gewinnen, müssen sie uns mindestens ein Jahr lang umsonst
verköstigen, bei all den Versprechen, die sie geben.
Er verkniff sich ein
Kichern. Ich glaube, ihnen würde der
Schreck in die Glieder fahren, wenn sie wüssten, wie viel es
braucht, um dich satt zu bekommen! Ganz davon zu schweigen, dass du
in einer einzigen Nacht ihre gesamten Bier- und Weinkeller leer
saufen kannst.
Das würde ich nie
tun, schnaubte sie, fügte dann aber schelmisch
hinzu: Vielleicht in zwei
Nächten.
Als sie die Prozedur endlich hinter sich
gebracht hatten, fragte Eragon Nasuada: »Was soll ich tun? Wie kann
ich dir zu Diensten sein?«
Nasuada sah ihn mit fragender Miene an. »Was
glaubst du denn, wie du mir am
besten dienen kannst, Eragon? Du kennst deine Fähigkeiten besser
als ich.« Sogar Arya musterte ihn jetzt und wartete auf seine
Antwort.
Eragon schaute zum blutroten Himmel hinauf
und überlegte. »Ich werde den Befehl über die Du Vrangr Gata
übernehmen, so wie sie es einst gewollt haben, und sie in die
Schlacht führen. Wenn wir zusammenarbeiten, haben wir bessere
Chancen, gegen Galbatorix’ Magier anzukommen.«
»Das ist eine ausgezeichnete Idee.«
Gibt es einen
Ort, fragte Saphira, wo Eragon
seine Taschen abstellen kann? Ich möchte sie und diesen Sattel
nicht die ganze Zeit herumschleppen müssen.
Als Eragon ihre Frage wiederholte, sagte
Nasuada: »Natürlich. Du kannst sie erst einmal in meinen Pavillon
bringen. Ich werde ein Zelt für dich aufstellen lassen, Eragon,
dort kannst du euer Gepäck dann verstauen. Ich würde allerdings
vorschlagen, dass du deine Rüstung anlegst, bevor du die Sachen
wegpackst. Es könnte jederzeit notwendig werden... Ah, da fällt mir
ein, wir haben dir deine Rüstung mitgebracht, Saphira. Ich lasse
sie holen.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Orik.
»Es sind einige Knurlan vom Dûrgrimst Ingietum hier, die uns
beim Bau der Verteidigungslinien geholfen haben. Wenn du willst,
kannst du sie befehligen.«
Orik schien die Aussicht zu erfreuen, nach
langer Zeit wieder ein paar Zwerge zu Gesicht zu bekommen,
besonders aus seinem eigenen Clan. Er schlug sich mit der Faust
gegen die Brust und sagte: »Das mache ich! Wenn Ihr mich bitte
entschuldigen würdet, ich gehe am besten sofort an die Arbeit.«
Ohne noch einmal zurückzuschauen, trottete er in nördlicher
Richtung zur Brustwehr los.
Als die übrigen vier den Pavillon
erreichten, sagte Nasuada zu Eragon: »Gib mir Bescheid, wenn du mit
der Du Vrangr Gata alles geregelt hast.« Dann zog sie die
Eingangsplane zum Pavillon zur Seite und verschwand mit Elva in der
dunklen Öffnung.
Als Arya ihnen folgen wollte, griff Eragon
nach ihrem Arm und sagte in der alten Sprache: »Warte!« Die Elfe
blieb stehen und sah ihn ausdruckslos an. Er erwiderte ihren Blick
und schaute ihr tief in die Augen, in denen sich das merkwürdige
Licht um sie herum spiegelte. »Ich entschuldige mich nicht für das,
was ich für dich empfinde. Aber ich möchte, dass du weißt, wie Leid
mir mein Verhalten während der Blutschwur-Zeremonie tut. Ich war
nicht ich selbst in jener Nacht, sonst wäre ich niemals so direkt
gewesen.«
»Und du wirst es nie wieder tun?«
Er unterdrückte ein humorloses Lachen. »Es
ist ohnehin vergebens, oder?« Als sie nichts darauf sagte, fügte er
an: »Ich möchte nicht, dass du dich meinetwegen ärgerst, selbst
wenn du...« Den letzten Teil des Satzes ließ er unausgesprochen,
denn er wollte nichts sagen, was er hinterher bereuen würde.
Aryas Züge wurden weicher. »Ich möchte dir
nicht wehtun, Eragon. Das sollst du verstehen.«
»Das verstehe ich ja«, sagte er, klang dabei
aber nicht sehr überzeugend.
Es folgte ein ungemütliches Schweigen, das
sich eine kleine Weile hinzog. »Euer Flug verlief
problemlos?«
»Ja.«
»Hattet ihr keine Schwierigkeiten in der
Wüste?«
»Hätten wir denn welche haben sollen?«
»Nein, ich wollte es bloß wissen.« Dann
fragte Arya mit noch sanfterer Stimme: »Und was ist mit dir,
Eragon? Wie geht es dir seit der Zeremonie? Ich habe gehört, was du
Nasuada erzählt hast, aber du hast nur über deinen Rücken
gesprochen.«
»Ich...« Er versuchte zu lügen - er wollte
sie nicht wissen lassen, wie sehr er sie vermisst hatte. Aber die
alte Sprache hinderte ihn daran zu sagen, was er eigentlich sagen
wollte, und ließ ihn verstummen. Schließlich verlegte er sich auf
eine Technik der Elfen, bei der man nur einen Teil der Wahrheit
aussprach, um das Gegenteil der tatsächlichen Sachlage zu
vermitteln. »Es geht mir besser als vorher«, sagte er und beschrieb
damit lediglich den Zustand seines Rückens.
Trotz seines kleinen Tricks schien Arya
nicht überzeugt zu sein. Sie bohrte jedoch nicht weiter nach,
sondern sagte nur: »Das freut mich.« Aus dem Pavillon drang
Nasuadas Stimme zu ihnen heraus, und Arya schaute sich kurz um,
bevor sie ihn wieder ansah. »Ich werde gebraucht, Eragon… Wir
werden beide gebraucht. Die Schlacht steht uns kurz bevor.« Sie hob
die Plane an und trat einen Schritt ins Halbdunkel des Zeltes, dann
blieb sie noch einmal stehen und sagte: »Pass auf dich auf, Eragon
Schattentöter!«
Dann war sie verschwunden.
Vor lauter Enttäuschung blieb Eragon wie
angewurzelt stehen. Er hatte erreicht, was er wollte, doch es
schien sich zwischen ihm und Arya nichts geändert zu haben.
Resigniert ballte er die Fäuste und starrte mit hochgezogenen
Schultern zu Boden, ohne etwas zu sehen.
Er schrak zusammen, als Saphira ihn mit der
Schnauze anstupste. Komm,
Kleiner, sagte sie sanft. Du
kannst hier nicht ewig rumstehen. Außerdem fängt der Sattel
allmählich an zu jucken.
Eragon trat neben sie, nahm ihr die
Halsschlaufe ab und fluchte leise, als sie an einer Schnalle hängen
blieb. Fast hoffte er, das Leder würde zerreißen. Dann öffnete er
die restlichen Gurte und ließ den Sattel und alles, was daran hing,
in einem wirren Haufen zu Boden fallen. Ah, tut das gut, das Ding los zu sein, sagte
Saphira und schüttelte ihre massigen Schultern aus.
Eragon holte seine Rüstung aus den
Satteltaschen und legte das glänzende Kriegskleid an. Als Erstes
streifte er sich das Kettenhemd über das Elfenwams, dann legte er
die Arm- und Beinschienen an. Auf den Kopf kam die ausgepolsterte
Lederkappe, darüber die Kettenhaube aus gehärtetem Stahl und dann
der Helm aus Gold und Silber. Zuletzt streifte er noch die
Panzerhandschuhe über.
An seiner linken Hüfte hing Zar’roc am
Gürtel von Beloth dem Weisen. Auf den Rücken schnallte er sich den
Köcher mit den schwanenfederbesetzten Pfeilen, die Islanzadi ihm
geschenkt hatte. Erfreut stellte er fest, dass sich sogar ein Haken
daran befand, an dem er den Bogen befestigen konnte.
Nachdem er seine und Oriks Habseligkeiten in
den Pavillon geräumt hatte, begaben sich Eragon und Saphira auf die
Suche nach Trianna, der gegenwärtigen Anführerin der Du Vrangr
Gata. Nach wenigen Schritten spürte Eragon ein Wesen, dessen Geist
mit einem Schutzschild versehen war. In der Annahme, dass es sich
um einen der Magier der Varden handelte, machten sie sich auf die
Suche nach der Person.
Kaum eine Minute später erreichten sie ein
kleines grünes Zelt, vor dem ein Esel angepflockt war. Links
daneben hing an einem metallenen Gestell ein rußiger Kessel über
einem der scheußlich riechenden Feuerschächte. Um den Kessel herum
hingen Bündel von Nachtschatten, Schierling, Rhododendron, Sabinen,
Eibenrinde und verschiedenen Pilzen, die Eragon aus seinem
Unterricht bei Oromis als giftig kannte. Und neben dem Kessel stand
Angela, die Kräuterhexe, und rührte mit einem langen Stecken in dem
Gebräu herum. Zu ihren Füßen saß Solembum.
Die Werkatze maunzte, und Angela schaute
auf, das schweißglänzende Gesicht von wallenden Korkenzieherlocken
umrahmt. Sie runzelte die Stirn und ihr Gesichtsausdruck wirkte
schaurig im Lichtschein der grünen Flammen. »Ah, ihr seid
zurück.«
»Ja.«
»Ist das alles, was du zu sagen hast? Hast
du Elva schon kennen gelernt? Hast du gesehen, was du dem armen
Mädchen angetan hast?«
»Ja.«
»Ja, ja,
ja!«, rief Angela aus. »Wie kann man nur so einsilbig
sein? Da bist du so lange bei den Elfen in Ellesméra gewesen, und
dir fällt nichts weiter ein als ›Ja‹? Hör zu, du Einfaltspinsel:
Jemand, der solchen Unfug verzapft hat wie du, verdient
es...«
Eragon faltete die Hände auf dem Rücken und
wartete, während Angela ihm in den schillerndsten Farben vorbetete,
was für ein gewaltiger Trottel er sei, welch debile Vorfahren er
gehabt haben müsse, um so ein Hohlkopf zu werden - sie ging sogar
so weit anzudeuten, dass sich unter seinen Großeltern wohl jemand
mit einem Urgal eingelassen haben müsse - und welche grässlichen
Strafen er für seine idiotische Tat verdient habe. Hätte ihn ein
anderer in dieser Art und Weise beleidigt, Eragon hätte ihn zum
Duell gefordert, doch Angelas Wortschwall ließ er geduldig über
sich ergehen, weil er wusste, dass man bei ihr nicht dieselben
Maßstäbe anlegen konnte wie bei anderen Leuten - und vor allem,
weil ihr Zorn gerechtfertigt war. Ihm war ja tatsächlich ein
schrecklicher Fehler unterlaufen.
Als sie schließlich innehielt, um Luft zu
holen, sagte er: »Du hast völlig Recht, und ich werde nach der
Schlacht versuchen, die Kleine von dem Zauber zu befreien.«
Angela blinzelte dreimal hintereinander,
spitzte verblüfft die Lippen und klappte dann den Mund zu. Mit
argwöhnischem Blick fragte sie: »Sagst du das bloß, um mich zu
beschwichtigen?«
»Das würde ich niemals tun.«
»Du hast wirklich vor, den Zauber
zurückzunehmen? Ich dachte, so etwas geht nicht.«
»Die Elfen beherrschen die unglaublichsten
magischen Kniffe.«
»Aha... Na, dann wäre das ja geregelt.« Sie
lächelte ihn breit an, wandte sich dann zu Saphira um und
tätschelte ihre Kinnbacken. »Schön, dich wiederzusehen, Saphira!
Bist ganz schön gewachsen!«
Du nicht, Braunlocke,
aber ich freue mich trotzdem, dich zu sehen.
Als Angela fortfuhr, in ihrem Gebräu zu
rühren, sagte Eragon: »Deine Schimpftirade war ganz schön
beeindruckend.«
»Danke. Ich habe auch wochenlang daran
gearbeitet. Schade, dass du das Ende nicht gehört hast. Das
wäre wirklich beeindruckend
gewesen. Wenn du willst, hole ich es nach.«
»Ach, das muss nicht sein. Ich kann es mir
ungefähr vorstellen.« Er betrachtete sie aus dem Augenwinkel und
sagte: »Du scheinst dich gar nicht über mein Aussehen zu
wundern.«
Die Kräuterhexe zuckte mit den Schultern.
»Ich habe meine Informanten. Ich finde, du siehst jetzt besser aus.
Vorher warst du noch ein bisschen... wie soll ich
sagen? Unfertig.«
»Das stimmt.« Er deutete auf die
herabhängenden Pflanzen. »Was hast du damit vor?«
»Ach, das ist nur ein kleines Experiment,
sozusagen.«
»Hmm.« Eragon betrachtete das Farbmuster
eines getrockneten Pilzes, der vor seiner Nase baumelte, und
fragte: »Hast du inzwischen herausgefunden, ob es Kröten wirklich
gibt?«
»Na, und ob! Es scheint, dass alle Kröten
Frösche sind, aber nicht alle Frösche sind Kröten. So gesehen, gibt
es Letztere also gar nicht, und das bedeutet, dass ich von Anfang
an Recht hatte.« Sie hörte auf zu rühren, beugte sich zur Seite,
nahm einen Becher von der Holzbank neben sich und reichte ihn
Eragon. »Hier, frischer Tee.«
Beklommen schaute Eragon auf die
todbringenden Pflanzen vor ihm und dann wieder in Angelas offenes
Gesicht, bevor er ihr den Becher abnahm. Ganz leise, damit die
Kräuterhexe es nicht hörte, murmelte er drei Zaubersprüche, um
festzustellen, ob der Tee vergiftet war. Erst danach wagte er,
daran zu nippen. Er war köstlich, auch wenn Eragon die Zutaten
nicht identifizieren konnte.
In diesem Augenblick schlenderte Solembum zu
Saphira, machte einen Buckel und rieb sich an ihrem Bein, wie eine
ganz normale Katze. Saphira verdrehte den Hals und stupste Solembum
an. Ich bin in Ellesméra jemandem
begegnet, der dich kennt.
Solembum hielt inne und legte den Kopf
schräg. Wirklich?
Ja. Ihr Name war
Flinktatze und Traumtänzerin, aber die meisten haben sie Maud
genannt.
Solembums Augen weiteten sich. Er stieß ein
tiefes, kehliges Schnurren aus und rieb sich mit neuem Eifer an
Saphira.
»So«, sagte Angela, »ich gehe davon aus,
dass du bereits mit Nasuada, Arya und König Orrin gesprochen hast.«
Er nickte. »Was hältst du vom guten alten Orrin?«
Eragon wählte seine Worte mit Bedacht, denn
ihm war bewusst, dass sie über einen König sprachen. »Nun... er
scheint viele verschiedene Interessen zu haben.«
»Ja, er ist durchgedreht wie ein Narr beim
Mittsommernachtsfest. Andererseits sind wir das doch alle
irgendwie.«
Amüsiert über ihre Freimütigkeit, sagte
Eragon: »Er muss verrückt sein, so viel Glas mit sich
herumzuschleppen.«
Angela hob eine Augenbraue. »Wovon redest
du?«
»Bist du noch nicht in seinem Zelt
gewesen?«
»Im Gegensatz zu anderen«, sagte Angela,
»schmeichle ich mich nicht bei jedem Monarchen ein, der mir über
den Weg läuft.« Und so beschrieb er ihr die zahllosen Instrumente,
die Orrin zu den brennenden Steppen mitgebracht hatte. Angela
lauschte interessiert. Sobald er fertig war, widmete sie sich
wieder dem Gebräu in ihrem Kessel und nahm verschiedene Pflanzen
von den Schnüren ab - einige davon mit einer Zange. »Ich glaube,
ich muss Orrin mal einen kleinen Besuch abstatten. Ihr beiden
werdet mir ein anderes Mal von Ellesméra erzählen... So, und nun
verdrückt euch! Los!«
Eragon schüttelte den Kopf, als die kleine,
stämmige Frau ihn und Saphira von ihrem Zelt verscheuchte, während
er noch immer den Teebecher in der Hand hielt. Mit ihr zu reden, ist immer...
Sonderbar?, schlug Saphira vor.
Genau.